Reformstau in Deutschland

Sie kennen diese Redensart bestimmt – „jemanden den Spiegel vorhalten“. Sie bedeutet so viel wie jemanden, der sich altklug gibt, auf seine Fehler hinweisen. So oder so ähnlich könnte man die Ende vergangenen Monats von der Europäischen Kommission abgegebenen Reformempfehlungen für die Bundesrepublik interpretieren. Denn die schwarz-gelbe Bundesregierung ist schnell bei der Sache, wenn es darum geht unseren europäischen Partnern Reformtipps zu geben. Doch mit Blick auf den eigenen Reformstau weigert sie sich beharrlich, vor der eigenen Haustür zu kehren. Nun hat sie aus Brüssel den Spiegel vorgehalten bekommen. Überfällige Projekte wie die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder die Bekämpfung der Lohnspirale nach unten verschleppt Schwarz-Gelb von Jahr zu Jahr. Sicherlich, nicht alle Kommissionsvorschläge sind der Weisheit letzter Schluss. Aber sie sind immer noch besser als die Alternative der Regierung: Füße still halten bis die Bundestagswahl rum ist.

Kein Wunder, dass die EU-Kommission Deutschland jetzt zum wiederholten Male rügt. Der Bericht der Kommission liest sich dabei wie eine To-Do-Liste zur Modernisierung unserer Gesellschaft. So sind immer mehr Arbeitnehmer trotz ihres Verdienstes auf Hartz-IV angewiesen. Bei Single-Haushalten ist die Zahl der Aufstocker im letzten Jahr sogar um über ein Drittel gestiegen. Insbesondere Geringverdiener leiden unter der unverhältnismäßig hohen Abgabenlast. Die sich ausbreitende Armut trotz Arbeit ist ein unerträglicher Zustand für eine starke Wirtschaftsnation wie die unsere.

Die (nicht verbindlichen) Empfehlungen der Kommission sind Bestandteil des sogenannten Europäischen Semesters. Es sieht vor, dass die Kommission Vorschläge ausspricht, wie die EU-Staaten durch gezielte wirtschaftpolitische Reformmaßnahmen mehr Wachstum organisieren können. Wachstum ist übrigens ein gutes Stichwort in Sachen Reformen in Europa. Denn während Berlin seinen europäischen Partnern immer wieder dieselben Reformtipps diktiert (Sparen, Kürzen, Streichen) begegnete Kanzlerin Merkel der im Zuge der Finanzkrise entstandenen Rezession in unserem Land ganz anders. Zwischen 2008 und 2010 legte die Große Koalition das größte Konjunkturpaket der deutschen Nachkriegsgeschichte auf. 100 Milliarden Euro, also ganze vier Prozent der deutschen Wirtschaftskraft pro Jahr, lösten die Wachstumskräfte aus, von denen die deutsche Industrie heute profitiert.

Das Wachstum die Grundvoraussetzung für Konsolidierung ist, begreift selbst die sonst so schwerfällige Kommission Stück für Stück. Hoffen wir im Interesse Aller in Europa, dass das der Bundesregierung in ihren letzten Monaten auch noch gelingen wird.