Merkels Potemkinsches Dorf

Zarin Katharina II. hatte sich im 18. Jahrhundert die Modernisierung Russlands zum Ziel gesetzt. Eine strategische Schlüsselrolle kam hierbei der damals russischen Krimprovinz zu, die den Zugang des Zarenreiches zum Mittelmeer sichern sollte. Mit der Modernisierung vor Ort war Gouverneur Potemkin betraut. Während einer Inspektionsreise soll er Häuserfassaden angestrichen und Attrappen aufstellen haben lassen, um bei der Zarin den Eindruck einer prosperierenden Krim zu erwecken und so sein Versagen zu verdecken. Heute ist diese Überlieferung historisch widerlegt – der Begriff der Potemkinschen Dörfer für politische Trugbilder ist dennoch zum geflügelten Wort geworden.

Kommenden Monat werden die Staats- und Regierungschefs der EU mit Ausnahme Tschechiens und Großbritanniens den sogenannten Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin unterzeichnen. Schaut man genauer auf den Vertragsentwurf, ist die Parallele zu den Potemkin’schen Dörfern offensichtlich – nur dass es hier um Paragrafen statt um Häuserfassaden geht. So wird allen voran von der Bundeskanzlerin bejubelt, dass bei überhöhter Neuverschuldung – mehr als drei Prozent der Wirtschaftskraft – Defizitverfahren automatisch eingeleitet werden. Die Gesamtverschuldung, die 60 Prozent der Wirtschaftsleistung übersteigt, soll zudem verpflichtend abgetragen werden. Diese Regelungen sind allerdings keineswegs neu. Sie wurden bereits bei der Reform des Stabilitätspaktes im September 2011 beschlossen.

Doch die Errichtung Potemkin’scher Dörfer ist nur eine Seite der Medaille. Der Kardinalfehler der Kanzlerin liegt im naiven Glauben, die Krise lasse sich durch einseitiges Sparen lösen. Der Schuldenfalle kann die Eurozone nur entkommen, wenn sie angesichts der drohenden Rezession eine Modernisierung der europäischen Wirtschaft mit einer Ordnung der Staatsfinanzen verbindet. Ein völkerrechtlicher Vertrag, der auf einstimmigen Beschlüssen der Mitgliedstaaten beruht und sich der parlamentarischen Kontrolle entzieht, ist das falsche Mittel. Europa hat bessere Instrumente entwickelt, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern; die EU-2020-Strategie und der Jahreswachstumsbericht sind nur zwei Beispiele von vielen. Die Zukunft erfolgreicher Wirtschaftskoordination liegt nicht in zwischenstaatlichen Absprachen sondern im Bekenntnis zur gemeinschaftlichen Gesetzgebung unter parlamentarischer Kontrolle.