Brüsseler Spitzen - "Die unbequeme Wahrheit"

Die unbequeme Wahrheit

Kürzlich erregte ein Finger die Gemüter der Nation. Der Finger gehörte dem griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, er soll ihn angeblich Deutschland gezeigt haben – angeblich ausführend, dass Griechenlands Schulden nun Deutschlands Problem seien. Dies wurde gezeigt in der sonntäglichen Talkshow mit Günther Jauch, der an dem Abend körperlich und geistig zwischen Ernst Elitz, Kolumnist der Bild-Zeitung, und Markus Söder, Finanzminister von Bayern, Platz genommen hatte. Die Drei vom Gasometer hatten sich vorgenommen, dem Griechen mal ordentlich auf die frechen Finger zu klopfen.

Dass der gesamte Redebeitrag, der sich um den Finger rankte, aus dem Jahr 2013 stammte, sich auf das Jahr 2010 bezog und Varoufakis hier als Wirtschaftsprofessor gegen einen Ausstieg Griechenlands aus dem Euro und für eine Entschuldung innerhalb der Eurozone argumentierte, spielte keinerlei Rolle für diese Mission. Der Ausschnitt der gesamten Argumentation von Varoufakis ist sechs Minuten lang. Es ist ein komplexes Thema und Varoufakis bezieht sich vor allem auf die Probleme in der Währungsunion. Diese zu reduzieren auf einen Stinkefinger und einen Satz ist Polemik in schönster Form. Varoufakis zögerte nicht, zu dementieren und meinte, er habe den Finger niemals gezeigt. Das Video sei eine Fälschung – eine Aussage, die sich allerdings auch als unwahr herausstellte. Kurze Zeit danach griff der neue Youngster des ZDF, Jan Böhmermann, ganz hipstermäßig das Thema auf und verkündete, der Stinkefinger des Varoufakis sei eine Fälschung, konstruiert von seiner eigenen Redaktion für das Satire-Video “V for Varoufakis”. Aber am nächsten Tag schon erklärte das ZDF wiederum, dass die Geschichte der Fälschung eine Satire sei, der Finger also der Wahrheit entspräche. Wahrheit, Fälschung, Wahrheit, Fälschung, Wahrheit, Fälschung – zu dem Zeitpunkt konnte niemand mehr wirklich folgen. Auf eine unverschämte Verzerrung folgte eine scheinbar großartige Mediensatire. Im Grunde interessierte es schon niemanden mehr, was eigentlich der Wahrheit entsprach und worum es eigentlich ging – es standen sich zwei Meinungen gegenüber und in der Debatte ging es vor allem um die Deutungshoheit: Die Griechen sind nicht nur faul, sondern auch noch unverschämt versus die Griechen sind Opfer einer Medienkampagne, das wurde nun endlich mal entlarvt.

Neben diesen Meinungen blieb vermeintlich nur eine Tatsache stehen: Nichts von dem, was ich sehe oder höre, ist wahr, es kann alles manipuliert sein; wahr ist nur das, was ich meine. Jeder kann sich seine Fakten selbst wählen, alles andere könnte gefälscht sein. Ideologie statt Fakten. Verdrehung statt Wahrheit. Vorurteile statt Argumente. Es gibt sie, die Wahrheit, sie ist manchmal mühsam zu finden, oft ist sie unbequem und passt uns nicht in den Kram und noch häufiger muss man seine Argumentation nochmal überdenken und revidieren. All das ist anstrengend und erfordert einen Dialog, keinen Kampf um die Deutungshoheit um des schönen Scheins Willen. Yanis Varoufakis sagte nach dem Vorfall, Deutschland hätte andere Medien verdient. Das ist nicht unbedingt richtig. Deutschland hat vor allem andere Debatten verdient.

Das 6-Minuten Video von Varoufakis: hier
Jan Böhmermmann´s V for Varoufakis: hier

Meine Kolumne “Brüsseler Spitzen” erscheint alle 14 Tage im Gelnhäuser Tageblatt und befasst sich mit aktuellen Themen aus Brüssel und Europa