Brüsseler Spitzen - "Eine Schande für Europa"

Eine Schande für Europa

Es war die bisher verheerendste Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Mit ihrem schieren Ausmaß hat sie den Schrecken von Lampedusa im Jahr 2013 auf tragische Weise weit in den Schatten gestellt. Nach Angaben von Überlebenden sind am vorletzten Wochenende etwa 950 Flüchtlinge bei der Überfahrt nach Europa qualvoll ertrunken. Die Einzelheiten des Unglücks sind unerträglich grausam. Flüchtlinge, die nicht genügend Geld für das Deck aufbringen konnten, seien unter Deck eingesperrt gewesen, unter ihnen auch viele Frauen und Kinder. Vermutlich haben sie erst in letzter Minute begriffen was passiert.

Das ist nur ein Unglück von vielen, die sich beinahe täglich vor den Grenzen Europas ereignen. Während die letzten Jahre geprägt waren vom Nichtstun, ist nun die Zeit der klaren Worte und Taten überfällig. Solche Ereignisse sind eine Schande für Europa. Mit jedem weiteren Boot, das untergeht, mit jedem weiteren Menschen, der stirbt, versinkt auch die Würde Europas Stück für Stück in den Fluten. Es muss gehandelt werden und zwar ohne politisches Geschacher. Die am letzten Donnerstag auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs beschlossene Erweiterung der Grenzschutzprogramme ist ein viel zu kleiner Schritt. Nötig ist ein echtes Nachfolgeprogramm für den erfolgreichen italienischen Seerettungseinsatz “Mare Nostrum” – mit mindestens gleichem Umfang und gleichem Mandat.

Die vielen Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, kommen häufig aus Bürgerkriegsgebieten und unsicheren Staaten. Ob aus Libyen, Syrien oder vom Horn von Afrika – immer mehr Menschen müssen aus Angst um ihr Leben fliehen. Die Europäische Agentur für operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, Frontex, schätzt daher, dass derzeit bis zu eine Million Flüchtlinge in Libyen auf die Überfahrt warten. Diese Flüchtlinge sind so verzweifelt, dass sie das Risiko des Ertrinkens eher in Kauf nehmen, als Gefahren wie beispielsweise dem Terror des Islamischen Staats weiter ausgesetzt zu bleiben. Eine Wahl ohne Wahl. Auch zukünftig werden also viele Menschen in Europa Schutz suchen.

Neben kurzfristigen Hilfen braucht es deshalb auch langfristige Lösungen, die sichere Wege nach Europa schaffen. Nur so können wir verhindern, dass Schleuserbanden politische Unruhen weiter ausnutzen, um sich an dem Leid der Menschen zu bereichern. Damit beenden wir auch die unsägliche Debatte um einen Zusammenhang zwischen Seenotrettung und Förderung der Schleuseraktivitäten (“durch die Seenotrettung ermutigen wir die Überfahrt”). Darüber hinaus muss es Europa gelingen, die Flüchtlinge gerechter auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen. Das derzeitige Dublin-Verfahren führt zu einer unfairen Belastung der Staaten am Rande der EU. Eine Quote, die sich an Größen wie Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosenzahl und Einwohnerzahl orientiert, würde langfristig ein faires Verteilungssystem schaffen, das auf dem Prinzip der Solidarität beruht.

Wir Sozialdemokraten haben in der letzten Woche in den Fraktions- und Gruppensitzungen mit viel Wut und Trauer über die Ereignisse und Lösungen diskutiert. Mich macht es deshalb – mit Verlaub gesagt – fassungslos, dass die Staats- und Regierungschefs weiter Unwillen demonstrieren und sich nur vage zu Maßnahmen bekennen. Derweil warten wir wohl auf die nächste Katastrophe, die nächste Schweigeminute und den nächsten Gipfel. Ein unerträglicher Gedanke.

Meine Kolumne “Brüsseler Spitzen” erscheint alle 14 Tage im Gelnhäuser Tageblatt und befasst sich mit aktuellen Themen aus Brüssel und Europa