In Europa investieren

Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau von Pervenche Berès und Udo Bullmann

Scheitert Europa? Diese Frage stellen sich viele Menschen, da die Europäische Union in einer sich schnell wandelnden Welt immer wieder denselben Fehler begeht: Die Staatengemeinschaft reagiert, statt zu agieren, und das auch nur in Notlagen. Die jüngsten Beispiele für diese allzu passive Haltung waren der Umgang mit Griechenland und die Politik der EU-Mitgliedstaaten in der Flüchtlingskrise.

Das muss sich ändern. Um zu vermeiden, dass die ungelösten Probleme von heute das Europa von morgen belasten, müssen wir eine langfristige Perspektive einnehmen und die fundamentalen Probleme angehen.

Da sind zum einen die Investitionen in die Zukunft, die dem Niveau in anderen Staaten wie den USA hinterherhinken. Als Konsequenz riskiert Europa, seine ökonomische Stärke zu verlieren und in eine langanhaltende Stagnation zu verfallen. Zudem wächst in einigen EU-Ländern eine neue Generation heran, die mehr Arbeitslose als Beschäftigte kennt. Gleichzeitig untergräbt ein Mangel an Solidarität und Verantwortlichkeit unsere gemeinsamen Werte. Misstrauen in die EU-Institutionen breitet sich über den Kontinent hinweg aus. Das führt zum Aufstieg extremistischer und populistischer Kräfte.

Europa muss diese Abwärtsspirale durchbrechen. Deshalb schlagen wir eine politische Vorwärtsbewegung vor, die dringend drei Herausforderungen anpacken muss.

1. Mehr Investitionen mit langfristiger Perspektive: Der Erfolg Europas war immer eng damit verbunden, dass wir eine Vorreiterrolle eingenommen haben – zum Beispiel in der Ausbildung, bei Forschung und industrieller Entwicklung. Vor dem Hintergrund scharfer Konkurrenz und fortschreitender Globalisierung sind Investitionen in diese Felder wichtiger denn je.

Deshalb ist es auch falsch, so genannte Problemländer der Eurozone einzig und allein darauf zu verpflichten, mit drastischen Budgetkürzungen „ihr Haus so schnell wie möglich in Ordnung“ zu bringen. Wegen der blinden und undemokratischen Politik der „Troika“ sind Schulden und Arbeitslosigkeit hier explodiert, während die wirtschaftliche Entwicklung zum Erliegen kam. Bedenkliche Trends, wie niedrige Investitionen in neue Produktionsanlagen, in Infrastruktur oder Kommunikation, wurden verstärkt, wo eine Umkehr nötig gewesen wäre. Bis heute hat die Industrieproduktion in der EU nicht mehr das Vorkrisen-Niveau erreicht.

Europa muss schnell aufholen. Die Europäische Kommission schätzt, dass sich die Investitionslücke allein in den Bereichen Transport, Breitband und Energie jährlich auf 200 Milliarden Euro beläuft. Hinzu kommt, dass sich Projektträger über den Mangel an Risiko- und Langfrist-Kapital beklagen.

Um diese Lücke zu schließen, wurde jetzt der Europäische Fonds für Strategische Investitionen (EFSI) aufgelegt. Es ist dem Europaparlament zu verdanken, dass EFSI in der Lage sein wird, in Projekte zu investieren, die unmittelbar einen hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen haben, deren betriebswirtschaftlicher Gewinn sich aber womöglich erst auf mittlere Sicht einstellt. Auf diese Weise lassen sich dringend benötigte Zukunftsinvestitionen tätigen. Dieser Plan kann jedoch nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer langfristig angelegten Investitionsstrategie für Europa sein.

2. Intelligente Strukturreformen: Eine derartige Investitionsstrategie muss durch ein Bündel intelligenter Politiken ergänzt und gestützt werden. Seit dem Beginn der Krise wurden Strukturreformen eingeführt, die im Kern aus fiskalischen Sparmaßnahmen bestanden. Das Ergebnis war schwach, teilweise sogar dramatisch schlecht.

Dies zeigt, dass Fiskalregeln und Sanktionen alleine keine echte Wirtschaftspolitik ersetzen können. Stattdessen muss der Fokus einer neuen „Runde von Strukturreformen“ auf wachstumsfördernden, ökologisch und sozial ausgewogenen Initiativen liegen, die eine reale Konvergenz zwischen den EU-Mitgliedstaaten ermöglichen. Zum Beispiel sind Modernisierungsmaßnahmen in den Bereichen Bildung und Weiterbildung, aber auch Gesundheit und Kinderbetreuung entscheidend für die zukünftige Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaften.

Konkret schlagen wir vor, dass sich die EU im Mitentscheidungsverfahren zwischen EU-Parlament und Mitgliedstaaten auf eine begrenzte Zahl verbindlicher wirtschaftspolitischer Ziele einigt, die in den nächsten fünf Jahren erreicht werden sollen. Dies würde die Legitimität von Reformen erhöhen, aber auch mehr Flexibilität ermöglichen: Jedes Mitgliedsland könnte im Rahmen dieser Übereinkünfte selbst entscheiden, mit welchen konkreten Reformmaßnahmen es die gesteckten Ziele realisieren will.

3. Europa regieren: Die Eurozone braucht mehr Europa und mehr europäisches Regieren. Die Kompetenzen für gemeinsame Reformstrategien und Investitionsinitiativen sollten bei einem Kommissar gebündelt werden. Die Eurozone muss sukzessive mit einem gemeinsamen Budget ausgestattet werden. Der EFSI und der Euro-Rettungsfonds ESM könnten den Nukleus für eine solche Budgetposition bilden. Ein derartiges Instrument muss die volle Mitentscheidung durch die Mitgliedstaaten und durch das Europäische Parlament vorsehen. Die oft sehr volatile und rein intergouvernementale Kooperation der Finanzminister in der Eurozone ist nicht mehr angemessen, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Wir müssen gemeinschaftliche Entscheidungsstrukturen schaffen, die der parlamentarischen Kontrolle auf europäischer wie nationaler Ebene unterliegen.

Wir müssen jetzt handeln. Wenn wir nichts tun, werden uns die kommenden Generationen fragen, wieso wir trotz besseren Wissens nichts unternommen und ein Leben in Frieden und Wohlstand aufs Spiel gesetzt haben.

Der Gastbeitrag von Pervenche Berès, Vorsitzende der französischen Sozialisten im Europäischen Parlament, und mir ist in der heutigen Printausgabe der Frankfurter Rundschau erschienen. Online kann der Artikel hier gelesen werden. Die französische Ausgabe ist in “Les Echos” erschienen und kann hier gelesen werden.