Wetzlarer Neue Zeitung - "Nachgefragt bei..."

Die Frage: Die Rückführung von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei hat begonnen. Gleichzeitig droht Recep Tayyip Erdogan, dass die Türkei das Flüchtlingsabkommen mit der EU platzen lassen werde, wenn die Visumsfreiheit für Türken in der EU länger verzögert werde. Was bedeutet das für das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei? Und, gibt es in der Flüchtlingsfrage Alternativen, etwa die Erweiterung der Unterstützung für Griechenland und Italien bei der Unterbringung ankommender Flüchtlinge?

Das Abkommen der EU mit der Türkei kann helfen, die Situation der Flüchtlinge zu verbessern und sie unabhängiger machen von der Habgier krimineller Schlepperbanden. Es sieht die Rückführung nicht asylberechtigter Migranten aus Griechenland in die Türkei vor, im Gegenzug die Aufnahme asylberechtigter Menschen in die EU. Auf diese Weise sollen Möglichkeiten der legalen Einreise geschaffen und Anreize zur lebensbedrohenden Flucht über das Mittelmeer verringert werden.

Soweit die Theorie. In der Praxis hängt der Erfolg des Abkommens davon ab, dass alle Glieder der Kette reibungslos funktionieren: die asyl- und menschenrechtskonforme Prüfung der individuellen Situation der Flüchtlinge in Griechenland; eine den genannten Standards entsprechende, kooperative und faire Haltung der türkischen Behörden; die zugesagte Unterstützung der Türkei, die in der Tat wesentlich mehr Flüchtlinge in ihren Grenzen beherbergt als jedes Land innerhalb der EU; die Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, Flüchtlinge im Rahmen fester Kontingente aufzunehmen.

In Wirklichkeit hakt es weiterhin bei jedem einzelnen Glied dieser Kette. Stein des Anstoßes für die Türkei ist im Moment insbesondere die ihr zugesagte Liberalisierung des Reiseverkehrs. Doch können wir umstandslos auf Einreise-Visa verzichten, wenn die Türkei die hierfür nötigen Voraussetzungen nicht erbringt? Das gilt für technische Dinge wie die Ausstellung von Pässen nach europäischen Standards ebenso wie für ganz grundsätzliche Fragen. Einem Land, das Minderheiten diskriminiert, demokratische Rechte zunehmend abbaut und, wie erst jüngst, maßgebliche Kräfte der parlamentarischen Opposition durch Mehrheitsbeschluss mundtot macht, können wir nicht einfach pauschal Reisefreiheit nach Staatswillkür einräumen.

Derweil geht das Sterben im Mittelmeer, wie wir alle wissen, weiter. Über den Sommer hinweg werden tausende und abertausende von Flüchtlingen neuerlich versuchen, die rettenden Ufer Europas zu erreichen. Deshalb muss unabhängig vom Scheitern oder doch noch Gelingen des Türkei-Deals folgendes gelten:

Die EU-Mitgliedstaaten müssen ihre Kapazitäten zur Seenot-Rettung deutlich ausweiten. Die italienische Regierung hatte mit Amtsantritt ihres sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Renzi das beispielgebende Programm ‚Mare Nostrum‘ aufgelegt, mit dem Flüchtlinge schon an der afrikanischen Küste aufgefangen und so tausende von Leben gerettet wurden. Alleine konnte Italien das nicht auf Dauer stemmen. Die anderen EU-Staaten hatten sich jedoch geweigert, die Initiative mit zu übernehmen. Wir brauchen aber eine Rettungskapazität diesen Ausmaßes, verbunden mit wirklich effektiven Partnerschaftsprogrammen, die den Menschen in den Herkunftsländern und Anrainerstaaten eine sinnvolle Bleibemöglichkeit eröffnen.

Die direkt betroffenen Aufnahmeländer der EU, insbesondere Griechenland und Italien, dürfen nicht alleine gelassen werden. Grenzkontrolle und menschenwürdige Asylverfahren müssen kurzfristig unterstützt, mittelfristig in eine europäische Aufgabe überführt werden.

Die EU-Mitgliedstaaten müssen Aufnahmebereitschaft zeigen. Und zwar nicht wenige, sondern alle. Wer hier Solidarität verweigert, kann langfristig auch nicht mehr mit der Solidarität der Gemeinschaft rechnen. Für Merkel und Schäuble gilt aber auch umgekehrt: Wer als Pfennigfuchser und ständiger Besserwisser durch Europa zieht und selbst reformwillige Regierungen in ihren finanziellen Möglichkeiten weiter stranguliert, kann nicht auf Solidarität in der Flüchtlingsfrage zählen.

Und schließlich: wir müssen legale Wege für die Zuwanderung schaffen, auch außerhalb des Asylrechts. Deshalb fordern wir Sozialdemokraten ein Einwanderungsgesetz mit Hilfestellungen für wirkliche Integration. Handwerk und Industrie fragen uns, wann wir hier endlich voran kommen. Das darf nicht zu Lasten der Menschen gehen, die bei uns auf Ausbildung und bessere Jobs hoffen. Deshalb ist der Solidarpakt für Deutschland, den wir vorschlagen, von so großer Wichtigkeit..

Mein wichtigster Termin in der kommenden Woche:.

In der nächsten Woche geht es aus den Sitzungen in Brüssel heraus direkt nach Athen. Hier diskutiere ich auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem griechischen Finanzminister Tsakalotos und einigen weiteren Experten über die wirtschaftliche Zukunft des Landes in der EU.